Autoritäten, Bäume, Künstler, Mythen.

Hier eine weitere Exklusiv-Übersetzung (liebe 137 Freunde), diesmal ein Auszug aus Henry Millers Essay „Krishnamurti“ (The books in my life)*. Allein die Konstellation: einer der größten literarischen Freigeister des letzten Jahrhunderts redet über jemanden, den manche vielleicht als „spirituellen Lehrer“ bezeichnen würden (also quasi das Gegenteil, was aber in zentralen Punkten an der Sache vorbeigeht); und wenn ich drüber nachdenke, als was man Jiddu Krishnamurti denn sonst so bezeichnen könnte (neulich schrob ich „indischer Philosoph“, aber auch das trifft´s nicht wirklich), steh ich ebenfalls vor ner Wand: ich glaube, dass er schlicht zur Kategorie derer gehört, die man nicht begrifflich eingrenzen kann, ohne ihnen Gewalt anzutun; bei denen man so verdammt aufpassen muss, was man über sie sagt, dass man in der Regel einen großen Bogen um das Thema macht. Nicht, weil es uninteressant wäre, sondern weil man nichts Falsches sagen möchte. Und das tu ich auch jetzt nicht, sondern überlasse einfach Henry Miller das Feld, soll er sehen, wie er damit klarkommt, das ist ab jetzt seine Sache (ein Ausweichmanöver, sicher, aber immerhin eines, das dieses Thema zumindest auf´s Tapet bringt. Und wo wir schon mal so weit sind, möchte ich ganz schnell noch hinzufügen (ein bisschen großmäulig, ja ja, das trau ich mich gerade noch), dass ein Text wie dieser wahrscheinlich mehr über die Welt sagt, in der wir uns gerade befinden, als ungefähr dreitausendsiebenhundertachtundneunzig Zeitungsartikel über die „Finanzkrise“, den „Kampf der Kulturen“, über diesen momentan unglaublichen Rollback ins Mittelalter sowie die völlige Unsicherheit in Bezug auf fast alles, was Religion, Kultur, Wirtschaft & Politik betrifft (in dieser Reihenfolge)) (& Entschuldigung für all die Klammern), na schön, jetzt reicht´s, los geht´s:

(…) Nach einer langen Diskussion (Krishnamurtis) mit einem Mann in Bombay sagt Letzterer zu Krishnamurti: „Das, wovon Sie sprechen, könnte zur Erschaffung von Supermenschen führen, zu Leuten, die sich selbst ihre eigenen absoluten Meister wären.
Aber was ist mit dem Mann am Fuße der Leiter, der sich auf äußere Autoritäten verlassen muss, der alle Arten von Krücken braucht, der gezwungen ist, sich einem moralischen Code zu unterwerfen, der in Wirklichkeit zugegebenermaßen vielleicht gar nicht für ihn gemacht ist?“

K. antwortet: „ Schauen Sie, was in der Welt passiert. Die Starken, Gewalttätigen und Mächtigen, diejenigen, die Herrschaft über andere an sich reißen und ausüben, befinden sich oben; unten sind die Schwachen und Sanften, die kämpfen und sich abrackern. Nehmen Sie als Kontrast dazu einen Baum, dessen Stärke und Erhabenheit aus seinen tiefen und versteckten Wurzeln emporwächst; im Falle des Baumes ist das obere Ende gekrönt von zarten Blättern, empfindlichen Sprösslingen und den allerfragilsten Zweigen. In der menschlichen Gesellschaft, zumindest wie sie sich heute darstellt, werden die Starken und Mächtigen von den Schwachen gestützt. In der Natur dagegen sind es die Starken und Mächtigen, die die Schwachen stützen (unter den Evolutionsforschern gibt´s Debatten darüber, ob es nicht doch die Fähigkeit zur Empathie sein könnte, die für das Überleben der menschlichen Spezies bisher vor allem verantwortlich war – meine Anm.). Solange Sie weiterhin jedes Problem aus einer pervertierten und verzerrten Sicht wahrnehmen, werden Sie einfach nur immer den jeweils aktuellen Zusand der Dinge akzeptieren. Ich sehe das Problem aus einer anderen Perspektive… weil Ihre Überzeugungen nicht das Resultat ihres eigenen Verstehens sind, käuen Sie einfach nur die Äußerungen von Autoritäten wider, häufen Zitate an, spielen eine Autorität gegen die andere aus, das Alte gegen das Neue. Dazu habe ich nichts zu sagen. Wenn Sie das Leben jedoch von einem Standpunkt aus betrachten, der nicht deformiert oder von Autoritäten verunstaltet ist, nicht ausstaffiert mit dem Wissen anderer, sondern das Ihrem eigenen Leiden entspringt, Ihren eigenen Gedanken, Ihrer Kultur, Ihrem Verständnis, Ihrer Liebe, dann werden Sie verstehen, was ich sage – „car la méditation du coeur est l`entendement“… persönlich – und ich hoffe, Sie verstehen, was ich jetzt sage – habe ich keinerlei Glauben und gehöre keiner Tradition an. Das war immer meine Haltung dem Leben gegenüber. Es ist eine Tatsache, dass das Leben sich von Tag zu Tag ändert, und Glaubensinhalte und Traditionen sind für mich nicht nur nutzlos, sondern, würde ich mich von ihnen an die Kette legen lassen, hinderten mich daran, das Leben zu verstehen… Sie mögen Befreiung erlangen, ganz egal, wo sie sich befinden oder wie die Umstände sind, aber das bedeutete, dass Sie das Durchhaltevermögen eines Genies haben müssten. Weil Genie letztlich in der Fähigkeit besteht, sich von jeglichen Verstrickungen zu lösen, in denen man gefangen ist, die Fähigkeit, aus dem Teufelskreis auszubrechen… Sie mögen mir sagen, dass ich diese Fähigkeit nicht habe. Aber das exakt ist mein Standpunkt. Um Ihre eigene Stärke zu entdecken, die in Ihnen selbst vorhandene Kraft, müssen Sie bereit und willens sein, sich mit jeder Art von Erfahrung auseinander zu setzen. Und gerade das ist es, was Sie ablehnen!“

Diese Art von Sprache ist nackt, befreiend und inspirierend. Sie durchdringt die Wolken von Philosophie, auf die unsere Gedanken gründen und erneuert Quellen, die zur Tat führen. Sie rückt die schwankenden Superstrukturalismen unserer verbalen Gymnasiasten an die richtige Stelle und reinigt den Boden von Unrat. Anstatt eines Hindernisrennens oder einer Rattenfalle macht es das tägliche Leben zu einer erfreulichen Angelegenheit. In einem Gespräch mit seinem Bruder Theo sagte Van Gogh einmal: „Christus war deshalb so unendlich groß, weil niemals irgendwelche Möbel oder andere stupiden Accessoires ihm im Weg standen.“ Man hat dasselbe Gefühl bei Krishnamurti: Nichts steht ihm im Weg. Seine Karriere, einzigartig in der Geschichte spiritueller Führer, erinnert einen an das berühmte Gilgamesch Epos. In seiner Jugend als der kommende Erlöser verklärt, lehnte er die ihm bereitete Rolle ab, verprellte sämtliche Jünger, und lehnte alle Mentoren und Lehrer rigoros ab. Er gründete keinen neuen Glauben oder Dogma, stellte alles in Frage, kultivierte den Zweifel ( besonders in Augenblicken der Verzückung), und – vermöge eines geradezu heroischen Ringens sowie unglaublicher Ausdauer – befreite sich von Illusion und falschem Zauber, von Stolz, Eitelkeit sowie jeder subtilen Form von Herrschaft über andere. Er drang zum Ursprung des Lebens vor, auf der Suche nach Nahrung und Inspiration. Den Fallen und Schlingen derer zu widerstehen, die ihn an ihre Kandare nehmen und ausbeuten wollten, erforderte unendliche Wachsamkeit (…) -

Es gibt etwas an Krishnamurtis Äußerungen, das das Lesen von Büchern äußerst überflüssig zu machen scheint. Auch gibt es eine andere, noch treffendere Tatsache in Verbindung mit seinen Äußerungen (…), nämlich dass „je klarer seine Worte, desto weniger seine Botschaft verstanden“ wird (Suarez).

Krishnamurti sagte mal: „Ich werde ausdrücklich vage sein; ich könnte genausogut sehr deutlich werden, aber das liegt nicht in meiner Absicht. Denn sobald eine Sache definiert ist, ist sie tot“… nein, weder definiert Krishnamurti, noch antwortet er mit Ja oder Nein. Er wirft den Fragenden auf sich selbst zurück, zwingt ihn, die Antwort in sich selbst zu suchen. Immer wieder wiederholt er: “Ich bitte Sie nicht darum, mir zu glauben… ich wünsche mir nichts von Ihnen, weder Ihre geneigte Meinung, Ihr Einverständnis, noch, dass Sie mir folgen. Ich bitte Sie nicht, zu glauben, sondern zu verstehen, was ich sage.“ Kollaboriert mit dem Leben! – das ist es, was er einem immer wieder einschärft. Hier und da ist es veritable Prügel, die er verabreicht – den Selbstgerechten. Was, fragt er, habt ihr erreicht mit all euren geschliffenen Wörtern, euren Slogans und Schubladen, euren Büchern? Wie viele Einzelne habt ihr glücklich gemacht, nicht in einem vorübergehenden, sondern in einem bleibenden Sinne? Und so weiter. (…)

All die schützenden Vorrichtungen – sozial, moralisch oder religiös – die die Illusion erzeugen, als würden sie die Schwachen stützen und ihnen helfen, auf dass sie gelenkt und geleitet würden in Richtung auf ein besseres Leben, sind präzise das, was sie von dem Gewinnbringenden an direkter Lebenserfahrung fernhält. Statt nackter und direkter Erfahrung sehnt sich der Mensch danach, Gebrauch zu machen von Protektionsangeboten, und wird auf diese Weise deformiert. Diese Schutzvorrichtungen werden zu Machtinstrumenten materieller und spiritueller Ausbeutung.

Einer der hervorstechendsten Unterschiede zwischen jemandem wie Krishnamurti und Künstlern generell liegt vor allem in der jeweiligen Haltung ihrer eigenen Rolle gegenüber. Krishnamurti betont, dass es einen permanenten Widerspruch gibt zwischen dem kreativen Genie eines Künstlers und seinem Ego. Der Künstler, sagt er, bildet sich ein, dass es sein Ego ist, welches großartig oder sublim ist. Dieses Ego möchte sich den Moment der Inspiration gewinnbringend zunutze machen für die eigene Glorifizierung, diesen Moment, in dem es in Berührung mit der Ewigkeit war, ein Moment, in dem ganz präzise das Ego eben gerade abwesend war, ersetzt durch den puren Bodensatz der eigenen lebendigen Erfahrung. Es ist die eigene Intuition, fährt er fort, der allein man sich anvertrauen sollte. Sowie in der Tat Dichter, Musiker, und Künstler überhaupt Anonymität kultivieren und sich von ihren Schöpfungen loslösen sollten. Die meisten Künstler jedoch pflegen das genaue Gegenteil, sie möchten ihr Werk vor allem im Zusammenhang mit ihrer Signatur sehen. Verkürzt gesprochen: solange der Künstler vor allem seinem Individualismus nachhängt, wird es ihm nie gelingen, seine Inspiration oder kreative Kraft permanent zu erhalten. Die Qualität oder Bedingung von Genie ist nichts als die erste Phase der Eingebung. (…)

(Gut, was!? – meine Anm.)

(…) Was mich dazu brachte, von Krishnamurti zu reden, ist die Tatsache, dass er, wie solide auch immer er verankert sein mag in der Realität, unwillentlich einen Mythos und eine Legende um sich herum erzeugt hat. Leute wollen einfach nicht wahrhaben, dass jemand, der sich selbst geschaffen hat – einfach, gerade und wahrhaftig – nicht etwas sehr viel Komplexeres und Mysteriöseres dahinter versteckt. Angenommen, ihr dringlichster Wunsch besteht darin, sich aus den grausamen Schwierigkeiten herauszuwinden, in denen sie sich befinden: was sie wirklich bewundern, ist, alles möglichst schwierig zu machen, möglichst obskur und änderungsfähig erst in einer fernen Zukunft. Dass ihre Schwierigkeiten selbstgemacht sind, ist das Letzte, was sie in der Regel zugeben. Auf Wirklichkeit, wenn sie sich denn einen Moment lang mal erlauben einzugestehen, dass sie existiert – im täglichen Leben – wird sich immer nur bezogen als „rauhe“ Wirklichkeit. Man spricht darüber wie von etwas Entgegengesetztem zur göttlichen Wirklichkeit, oder – sagen wir – einem sanften versteckten Paradies („soft hidden paradise“). Die Hoffnung, dass wir eines Tages erwachen werden zu Lebensbedingungen, die völlig anders sind als das, was wir jeden Tag erfahren, macht Menschen zu willigen Opfern jeder Art von Tyrannei und Unterdrückung. Der Mensch wird lächerlich gemacht durch Hoffnung und Angst. Der Mythos, den er von Tag zu Tag lebt, ist der Mythos, dass er eines Tages dem Gefängnis entkommen möge, das er für sich selbst geschaffen hat, und das er den Machenschaften anderer zuschreibt. Jeder wahre Held hat die Wirklichkeit zu seiner eigenen gemacht. Indem er sich selbst befreit, sprengt er den Mythos, der uns an Vergangenheit und Zukunft bindet. Darin besteht gerade die Essenz von Mythos – dass er das wunderhafte („wondrous“) Hier und Jetzt verschleiert. (…)

Ein paar Jahre später soll Krishnamurti folgendes gesagt haben: „Verlangt nicht nach Glücklichsein. Sucht nicht nach Wahrheit. Sucht nicht das Ultimative.“ Außer für Sophisten und Verfälscher gibt´s hier nichts Abweichendes von der ewigen Streitfrage, die er folgendermaßen auf den Punkt bringt: „Sie suchen nach Wahrheit, als wär´s das Gegenteil von dem, was Sie sind.“
Wenn solche klaren, gradlinigen Worte nicht anstacheln oder aufwecken, was dann?
(…)

(* Copyright 1969 by New Directions Publishing Corporations.)

Na schön, also hier hör ich einfach mal auf.

Hinterlasse eine Antwort

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind markiert *

Du kannst folgende HTML-Tags benutzen: <a href="" title=""> <abbr title=""> <acronym title=""> <b> <blockquote cite=""> <cite> <code> <del datetime=""> <em> <i> <q cite=""> <strike> <strong>