Ein Anruf wegen Mitch, Trivial Persuit & Rio revisited

„Wir mögen mittlerweile nicht mehr in der Lage sein, auch nur ein paar gerade Sätze in der Garderobe oder sonstwo zu wechseln, aber wir sind jetzt nach 25 Konzerten vor allem in der Lage, heute abend eine gute Show auf die Bretter zu legen, und darum geht´s ja hier schließlich“, sagte Mitch Ryder zu seinem Publikum gestern am letzten Tourtag in Schöneiche bei Berlin über sich und seine Band Engerling. Bzw. auch über mich, denn die letzten 12 Tage war ich als Aushilfe dabei, weil Boddi, Keyboarder der Band, krank geworden war.

Hatte vorletzten Dienstag gegen 18 Uhr einen Anruf gekriegt, ob ich nicht deshalb am nächsten Tag den Rest ihrer Tournee mitspielen könne… Mitch Ryder, Himmel!!! -
Ich bat um 20 Minuten Bedenkzeit, raufte mir ein ein bisschen die Haare bzw. rannte ein paar Wände rauf und runter, denn eigentlich hatte ich – ausgerechnet gerade jetzt – gar keine Zeit.
Aber es handelte sich hier um einen meiner raren Helden aus den beschissenen 80ern (pardon), und so eine Gelegenheit würde sich mit Sicherheit so schnell nicht nochmal ergeben. Nach einer Viertelstunde beschloss ich also, alles andere liegen & stehen zu lassen, rief zurück & sagte zu.

Das nächste, woran ich mich erinnere, ist die Abfahrtszeit gegen 8:30 Uhr am folgenden Morgen (hatte etwa 3 Std. lang geschlafen)… und dann versuche ich auf der Rückbank eines VW-Busses (Nichtraucher!) auf der Fahrt von Berlin nach Nürnberg mithilfe eines CD-Spielers ein knapp 3-stündiges Programm zu lernen. 2 Sitze vor mir Mitch Ryder, aber keine Zeit (oder Gelegenheit oder beides), irgendwas zu sagen. Als wir dann abends in Nürnberg auf die Bühne gehen, bin ich mit meinen Notizen fast durch. Allerdings dann kaum in der Lage, ihnen auf der Bühne auch zu folgen, zumal auch die Keyboards nicht meine eigenen sind bzw. ich erstmal lernen muss, wie die überhaupt funktionieren.
Auch am nächsten Tag gehe ich noch immer ein bisschen auf dem Zahnfleisch, aber am Tag darauf fängt´s bereits an, Spaß zu machen, denn ich hab das Zeugs jetzt halbwegs im Griff & bin entspannt genug, endlich auch dieser Stimme zuzuhören beim Spielen.

Ich weiß nicht, aus welchen tektonischen Schichten der Erde Herr Ryder diese Stimme hervorholt, aber es ist pure Lava, die da aus ihm herauskommt. Ich glaub, ich könnte diese Stimme monatelang begleiten, ohne dass es mir auch nur eine Sekunde langweilig würde. Sie kann schreien, flüstern, streicheln, fluchen, drohen & beißen wie eine Klapperschlange, die ganze Palette, und behält dabei doch immer dieses eigentümliche Timbre, das durch einen durchgeht wie ein Messer durch Butter. Und vor allem kann sie – das Wichtigste ist man bei all dem fast geneigt zu vergessen – singen.

Und zwischendurch erklärt der Mann dann noch verblüffenderweise äußerst zuvorkommend & vernünftig in ein paar gut gewählten Worten dem Publikum z.B. historische Zusammenhänge seiner Art von Stilistik. Oder macht sich sogar charmant zum Affen, indem er ein paar Tänzchen aus den roaring 60ties andeutet. Man merkt zwar jede Sekunde, dass er auch ganz anders könnte, aber wir haben´s hier mit dem Ausnahmefall eines Künstlers zu tun, der tatsächlich aufrichtig eine Beziehung zu seinem Publikum sucht. Wie seltsam.

Also wie gesagt, der Mann ist ein Vulkan – und bewegt sich auf der Bühne, wie Vulkane das eben auch in der Regel tun: nämlich fast gar nicht. Was bei ihm – wie auch immer – eine Aura von Würde & gelassener Virilität erzeugt. Auch das verblüffend. Im Gegensatz dazu dann die fast femininen Hände, mit denen er knapp hier & da das ein oder andere Wort unterstreicht oder illustriert. Ein bisschen wie chinesisches Theater, wo´s auch drauf ankommt, sich möglichst wenig zu bewegen, wodurch selbst kleinste Gesten plötzlich eine sehr große Bedeutung bekommen.

Überhaupt ist der ganze Typ das Gegenteil von Gehampel oder Comedy-Quatsch, immer sofort auf dem Punkt, kurz angebunden & mit einem leicht unwirschen & ziemlich sarkastischen Sinn für Humor. Kein Geplänkel, keine Gefangenen. Der würde so einen Nassforschling wie Oliver Pocher problemlos mit 2 Nebensätzen ungespitzt in den Boden rammen, wenn die beiden denn dieselbe Sprache sprächen. Schade eigentlich. Andererseits wird´s zu dieser Begegnung eh nie kommen, & insofern dann auch wieder egal.

So, und jetzt bin ich schließlich wieder hier nach dieser kleinen Reise auf den Mond & zurück, alles scheint beim alten, die Kneipen dieselben, die Leute & Gesprächsthemen auch, nur bei mir selbst bin ich mir da nicht so sicher.

Säue werden durchs Dorf gejagt, Debatten vom Zaun bzw. aus Zeitgründen mittendrin wieder abgebrochen, denn es geht eh alles zu schnell bzw. deshalb auch erstmal darum, die Fresse möglichst weit aufzureißen, egal womit (& nach dem Prinzip: irgendwas wird schon hängen bleiben) und in der Zwischenzeit spielen wir alle Trivial Persuit. Horizontales & ziemlich nutzloses Blödwissen, man ahmt psychologisch Computer nach, die uns darin auf ewig & zunehmend sowieso immer haushöher überlegen sein werden.

Computer können nicht fühlen, aber man kann sie gebrauchen. Das ist alles, jedenfalls für mich. Sie beinhalten keine neue Philosophie oder irgendwas in der Richtung, sondern sind einfach nur etwas wie die Erfindung des Telefons. Sie ändern nichts an grundsätzlichen Konflikten von Menschen, sie gehen nicht in die Tiefe oder in irgendwelche Höhen, sie lösen nichts von selber. Sie sind einfach nur horizontal gebrauchswertig. Wen die Möglichkeiten zu sehr berauschen, der vernachlässigt Inhalte oder die Vertikale, um im Bild zu bleiben.

Sicher sind die Möglichkeiten phantastisch, aber wozu? Man kann etwas Gutes oder etwas Schlechtes unter die Leute bringen (& natürlich alles dazwischen), nur mittlerweile halt in atemberaubender Geschwindigkeit und Potenz. Und geredet wird vor allem über Letzteres, wobei Qualitätskriterien auf der Strecke bleiben. Auch nur ansatzweise über Substanz zu reden, gilt zunehmend als verdächtig (denn das Medium ist ja bereits die Substanz, haha), könnte einem ja auch Chancen verbauen, aber worauf eigentlich? – Nein, da haben wir lieber schön die 3 Milliarden Fakten wie Zinnsoldaten einer unsichtbaren Armee gleichwertig nebeneinander stehen, und wer davon am meisten automatisch abrufen kann, wird Millionär bei Günther Jauch. Wobei diese Chance ja nun wirklich verschwindend gering ist.
Keine gute Wette, würd ich sagen.

Im Moment seh ich überall Westernhagen an den Wänden: „Wir haben die Schnauze voll“ heißt seine neue Single. Wovon eigentlich? Von der Werbung, die er freiwillig für die Bildzeitung macht?

Vor etwa 3 Monaten jetzt war ich ins Rio Reiser-Haus in Fresenhagen eingeladen, um mit Roman Kretschmer ein paar von Rios Liedern zu seinem Geburtstag spielen. Und auch ein paar von meinen. Während ich da so gen Norden fuhr, hörte ich im Autoradio eine Warnung nach der anderen vor dem „Sturmtief Daisy“, weswegen man auch auf gar keinen Fall durch eben die Gegend fahren sollte, durch die ich gerade fuhr. Die Straßen seien völlig vereist, hieß es, und man müsse mit gefährlichen Sturmböen & Schneewehen rechnen, während mein Auto & ich unter sternenklarem Winterhimmel auf völlig trockenen Straßen dahinrauschten, zauberhaft. Durch schneeverwehte Landschaften, Feen hinter den Bäumen, (jawohl), aber die hatten nichts mit den Straßen zu tun. Naja, zumindest nicht mit der Autobahn. Ich glaube, Radioleute lieben Katastrophenmeldungen.

Und am Ende bieg ich von der Landstraße in diesen kleinen Weg zu Rios Haus ein & es ist jetzt nur noch glitzefunkelnder Sternenschnee überall & vollkommene Stille & ich mach das Fenster weit auf & atme die Kälte ein & rauch noch eine, bevor das Haus da mit seinen einladenden Lichtern langsam vor mir auftaucht.

Drinnen dann ist die Atmosphäre sachlicher, wir proben, Gert Möbius kommt dazu & gibt wie aus dem Nichts plötzlich Regieanweisungen zu Rios Liedern. Es kommen ein paar sehr schöne Sachen dabei heraus, und zwischendurch denk ich, wenn ich so einen älteren Bruder gehabt hätte, dann wär ich wahrscheinlich auch sehr viel früher in der richtigen Spur gewesen.
Schließlich ruf ich noch jemanden an & fall danach erschlagen ins Bett.

Am nächsten Tag haben sie da eine Tagung des Rio-Vereins, ich hab keinen Schimmer, worum es geht, interessiert mich auch zunächst mal nicht, denn ich will nur mit Roman noch mal ein paar Sachen vom Vorabend proben. Geht aber nicht, weil sich die Tagung in die Länge zieht (& das passiert natürlich genau in dem Raum, wo wir geprobt haben), es herrscht ne Stimmung wie auf einer SPD-Ortsvereins-Sitzung oder so ähnlich, kein Platz für Lyrik, äh.
Und dann, als es vorbei ist, nehmen die Vereinsmitglieder ihr wohlverdientes Essen natürlich auch in genau dem Raum ein, in dem wir jetzt zu proben anfangen. Wir versuchen´s ein bisschen, doch als wir dann mit einer hochdramatischen Version von Zauberland anfangen, merken wir, dass das nicht geht, während die noch beim Essen mit ihrer Vereinstagung beschäftigt sind. Der ein oder andere summt halbinteressiert mit, aber das ist nicht die Stimmung, in der man Rios Songs nochmal durchgehen sollte. Gut, wir brechen´s also ab & lassen ab da den Abend einfach auf uns zukommen. Eigentlich auch erstmal nicht schlecht.

Und dann ist wie von Zauberhand plötzlich alles verwandelt, wie und wann genau, weiß ich nicht. Nicht nur das Café Junimond (bzw. unser Proberaum), sondern auch die Leute, die ganze Stimmung im Haus. Draußen ist es inzwischen dunkel geworden, Tische werden umgestellt & Kerzen angezündet, auch auf den Fluren, durch die die erwarteten Besucher umgeleitet werden, um zum Zentrum des Geschehens zu gelangen. Was eben noch ein nüchterner Vereinstagungsraum war, ist jetzt zu einem magischen kleinen Festraum geworden. Durch die Fenster kann man die ersten Besucher sich nähern sehen in Form von Autoscheinwerfern in der Schneelandschaft, und auch das hat etwas märchenhaftes. Aus Spaß zünde auch ich ein paar Kerzen auf einem der Flure an, und eine Frau neben mir sagt: „Es gibt doch nichts Schöneres als ein Licht anzuzünden, oder?“ – Mh.

Roman fängt an, aber die Stimmung ist ein bißchen sehr salbungsvoll. Er macht seine Sache eigentlich ganz gut, indem er meist Texte aus Rios Tagebüchern liest, die sich dann abwechseln mit ein paar von Rios Liedern, zu denen ich ihn begleite. Ich spüre eine leichte Unruhe bei einigen Zuhörern, kann sie aber nicht genau orten, und schließlich zerscheppert direkt neben meinem Epiano ein Weinglas. Ich schau hin und sehe ein Pärchen, und ich bin mir nicht sicher, ob ich das Grinsen des Typen jetzt als Häme oder einfach nur einen etwas polterigen Sinn für Humor deuten soll. Ich beschließe zweiteres, denn Rio war ja nun auch nicht immer der Leiseste oder Lyrischste , aber Roman unterbricht ein paar Momente später seinen Vortrag & macht ihn vor allen zur Sau. Etwa die Hälfte der Leute applaudiert. Danach ist es natürlich ruhiger, aber diese Ruhe ist jetzt auch nicht gerade mehr entspannt. In meinem eigenen zweiten Set dann versuche ich, dem entgegenzuarbeiten, indem ich mich zunächst völlig zurücknehme. Ich weiß allerdings auch, dass ich mich auf die Wirkung meiner Wörter verlassen kann, man muss denen gar keine großen Emotionen hinzufügen, im Gegenteil, sie wirken manchmal umso mehr, je mehr man sich selbst zurücknimmt. Funktioniert auch diesmal, und schließlich komme ich auch aus mir raus & es gelingt mir sogar, ein bißchen zu zaubern, & am Ende singt Roman dann noch Junimond, bzw. alle singen mit, hier ist endlich das Geburtstagsständchen an der exponiertesten Stelle des Abends, zufällig sehr passend, denn aus diesem Grund sind wir ja nicht zuletzt auch alle hier. Schön, das, obwohl ich´s mit dem Mitsingen & Wunderkerzen ansonsten eigentlich nicht so habe. Aber das hier ist eine Ausnahme.

Nach ein paar Zugaben verwandelt sich der kleine Festsaal in eine schnurrig-schöne & leicht hippie-eske Landkneipe, wo noch bis in die frühen Morgenstunden getagt wird. Gerd zeigt mir zwischendurch Rios Arbeitsraum, das weiße Klavier, den Tisch in der Mitte, ringsum all die Bücher, eine Kiste mit Schallplatten. Sie haben das Zimmer gestrichen, aber ansonsten so gelassen, wie es war, & seltsam, sagt Gert, es riecht immer noch genau so wie vor 14 Jahren. Er klappt das Klavier auf, spielt ein paar Töne. Ich rühr es nicht an, weiß auch nicht, warum.

Die Atmosphäre des Raumes erinnert mich an einen Traum, den ich vor 30 Jahren in meiner abgerissenen Rotterdamer Zeit mal hatte, in dem es um meinen alten Deutschlehrer und einen Textauszug ging, den er mir zeigen wollte, der grundlegend sein sollte für gewisse philosophische Fragen (äh, wie jetzt!?), geheimnisvoll & gleichzeitig aber auch auf eine existenzialistische Art kühl, sehr intellektuell und wie in einem dieser frühen sagenhaften Cocteau-Filme leicht neblig schwarzweiß. Leider bin ich damals aufgewacht, bevor er mir den Text zeigen konnte… dann sind wir in der Wohnküche, und Gert sagt, meine Art, mit Texten umzugehen sei ähnlich wie die von Rio bzw. letzterer hätte bestimmt seinen Spaß gehabt mit einigen meiner Reime, und das sei schließlich auch einer der Gründe, warum er ausgerechnet mich eingeladen habe. Bin gerührt & einen Moment lang stolz. Weiß nicht so richtig, was ich sagen soll.

Vergesse, ihm von dem Film zu erzählen, den ich vor ein paar Jahren mal hier auf einem Sommerfestival gesehen hatte, in dem mich Rio – und das mag vermessen klingen – plötzlich extrem an mich selber erinnerte. Ich dachte, das bin ja ich da auf der Bühne im Film; hatte das Gefühl, jeden seiner Gedanken sofort zu erraten. Und das bei jemandem, den ich nie versucht hatte zu imitieren. Ich meine, im Gegensatz zu Dylan z.B. (aber diese Phase ist lange vorbei, & was davon übrig ist, benutze ich einfach als Werkzeug) , bei dem ich mich noch immer manchmal frage, wie man das wohl macht: so einer zu sein. Keine Antwort bis heute. Und im Gegensatz dazu schien Rio mir eben plötzlich wie eine Parallele, fast durchsichtig. Der Unterschied allerdings: er drückte sich einfacher aus, ein Mann des Volkes sozusagen, zumindest wollte er das auf seine Art sein. Eine gewisse Schlageraffinität, er schreckte nichtmal zurück vor Zusammenarbeit mit Nervensägen wie Marianne Rosenberg. Ich glaub, er suchte auf allen möglichen Gebieten, experimentierte. Sogar mit deutschen Volksliedmotiven, vor denen ich, obwohl 7 Jahre jünger, noch sehr viel später schreiend davongerannt wäre. Das war für mich alles zu infiziert mit einem Geruch, mit dem ich nichts zu tun haben wollte. Mittlerweile seh ich das – zumindest teilweise – anders. Aber auch seine seltsamen Alben mit Sequenzer-Experimenten (auf dem damaligen Stand) bzw. seine Zusammenarbeit mit all diesen hochprofessionellen & auf Geld fixierten Studio-Cracks bei den meisten seiner sonstigen Alben wollten mir ne zeitlang aber auch sowas von überhaupt nicht einleuchten. Was wollte er denn mit denen…vielleicht liegt´s daran, dass er Zeit seines Lebens immer inmitten von irgendwas war (seien es politische Bewegungen oder eben auch Studiomusiker), während ich mir immer relativ außen vor meinen Reim auf die Welt machte (hat halt alles seine Vor- und Nachteile).

Mittlerweile verstehe ich auch das anders, nämlich dass er möglicherweise einfach versuchte, sich der quasi angesagten Mittel seiner Zeit zu bedienen, um möglichst viel Zeit & Platz für das Wichtigste zu haben, nämlich zu sagen, was er eigentlich sagen wollte. Eh ausgestattet mit einer Stimme (& Emotion), mit der er Ausschnitte aus Telefonbüchern hätte singen können & dabei immer noch glaubhafter rübergekommen wäre als die meisten seiner deutschsprachigen “Kollegen“. Was brauchte ihn da die Produktion groß zu scheren, da hielt er sich lieber in der Küche auf & kochte für alle & fuck it. Bei den Platten von Rio abstrahiere ich ähnlich wie bei denen von Warren Zevon: ich hör einfach nur der Stimme zu bzw. der Grundidee & ziehe davon den sterilen Sound ab. Und stell mir ab & zu mal vor, wie das hätte klingen können, wenn er bei der Auswahl seiner Produktions-Umgebung vielleicht ein glücklicheres Händchen gehabt hätte. Naja, man kann nicht alles haben & die Zeit ist knapp.

Gert erzählt mir, dass er seine Songtexte – ähnlich wie sein Tagebuch – meistens in einem Zug schrieb, und es gibt kaum Verbesserungen oder Durchgestrichenes in seinen Notizheften. Auch das ist bei mir ziemlich anders: ich brauch manchmal Jahre, um irgendwas fertigzustellen, meistens jedoch ein paar Tage pro Song, und da gibt´s dann oft seitenlang Durchgestrichenes oder Korrigiertes, bis sich die endgültige Form schließlich herausschält. Womit ich natürlich vorläufig endgültig meine, denn endgültig ist ja nie irgendwas, andererseits man ja auch zu Potte kommen muss. Aber dass irgendwas direkt & aus einem Moment heraus passiert, ist bei mir selten. Die Grundidee & vielleicht sogar die Hälfte des Textes, ja… aber alles? – Puhh… dazu muss man fast schon ein Genie sein, oder zumindest jemand, der sehr viele Stimmen sehr schnell in ihrer Essenz zusammenfassen & auf den Punkt bringen kann, und zwar möglichst noch inmitten von Turbulenzen, bei denen jedem anderen der Kopf im Quadrat rotieren würde. Dylan konnte sowas, Cohen nicht. Auch der brauchte lange für seine Texte. Und vielleicht hatte Rio in dieser Hinsicht Ähnlichkeiten mit dem frühen Dylan, wenn auch sehr viel simpler gestrickt, aber genauso dyonysisch, voll von glücklichem Chaos & Weltvertrauen, und wehe, wenn das ins Wanken geriet, diese Art von Alles-oder-Nichts-Typ. Abergläubisch, mystisch, frühchristlich, kommunistisch, schwul & was-nicht-sonst-noch-alles, aber mit dem Herz eines Boxers & dem Maul eines Löwen. Von sowas haben die meisten Leute schlicht keine Ahnung, da gehen sie auf Abstand, das ist ihnen nicht ganz geheuer, und vielleicht tun sie daran auch tatsächlich gut, was ihre eigene vordergründige Gesundheit betrifft. Und vielleicht ist auch das mit ein Grund, warum er nicht der Volkssänger wurde, der ihm selber vorschwebte; diesem einzigen deutschsprachigen Sänger, der mich in bestimmten Situationen ohne Vorwarnung zum Weinen bringen kann.

Dann reden wir über seine letzte Tour. Und da ist dann dieser Konzertveranstalter Wolfgang Schubert, den man gebeten hatte, nicht mehr als 5 Konzerte nacheinander zu buchen, einfach weil Rios Gesangsstil sehr anstrengend war, mehr ging nicht. Und was macht diese Knalltüte? Bucht 13 (!) Konzerte hintereinander & setzt ihm obendrein noch diese Chaoskapelle Knorkator ins Vorprogramm, die ihm permanent in der Garderobe auf dem Kopf rumtanzt. Also nach diesen 13 Gigs kann Rio schließlich nicht mehr & liegt in einem Hotelbett in Berlin & sagt den Gig dort bzw. die restlichen Konzerte ab. Dann verzieht er sich nach Fresenhagen & erfährt nach einiger Zeit, dass er auf dieser Tournee überhaupt nichts verdient hat. Nicht nur wegen der Gagen an Knorkator, von denen vorher überhaupt nicht die Rede gewesen war, sondern auch wegen schlichten Betrugs, der diesem Schubert zwar später vor Gericht nachgewiesen wird, aber da ist Rio bereits RIP. Möglicherweise hat ihm das (bei seinen dazukommenden Schulden) den Rest gegeben, vielleicht auch nur einen winzigen Moment lang, aber den entscheidenden, wer weiß. Und wer weiß, was er noch alles so angestellt hätte, wäre er wieder zu Kräften gekommen. Denn auch darin war er sehr gut. Genau wie sein Geist, der mit der Zeit seit seinem Tod tatsächlich stärker geworden ist. “Muss ich erst krepieren, bevor hier jemand meinen Wert begreift?” soll er mal gebrüllt haben.

Jedenfalls sind die Gästezimmer jetzt nach Songs von ihm benannt. Meins heißt „4 Wände“:

4 Wände, meine 4 Wande,
ich brauch meine 4 Wände für mich.
Die mich schützen vor Regen und Wind,
wo ich nur sein muß, wie ich wirklich bin.

4 Wände, meine 4 Wände,
ich brauch meine 4 Wände für mich.
Eine Wand für mein Klavier, eine Wand für ein Bild von dir,
eine Wand für eine Tür, sonst kommst Du ja nicht zu mir.

4 Wände, meine 4 Wände,
ich brauch meine 4 Wande für mich.
Eine Wand für ein Bett, nicht zu klein,
eine Wand für den Tisch mit dem Wein,
eine Wand für den Sonnenschein,
denn bei mir soll’s nicht dunkel sein.

4 Wände, meine 4 Wände
ich brauch meine 4 Wände für mich.

Es ist schön, in so einem Zimmer zu liegen. Man fühlt sich beschützt, während draußen – da, wo Rio mit seinem Löwenherz & seinem Kinder-Gemüt Wache zu halten scheint – mittlerweile ein eisiger Wind ums Haus fegt.

Vielleicht nicht mehr lange, denn das Anwesen soll verkauft werden. Es trägt sich nicht mehr, zuviele Unkosten & zuwenig zahlende Gäste. Zwar ist eigentlich alles fertig dort, Gästezimmer, Tagungsräume, ne hübsche Küche, Museum, Musikstudio, ein größerer & ein kleinerer Auftrittsort (Winnetous Garage & Café Junimond), beide wunderschön. Plus ein riesiges Wiesengelände drumherum für Festivals & was sonst noch alles. Nur geht ihnen halt die Puste aus. Und jünger werden Rios Brüder mit den Jahren auch nicht gerade.
Höre – synchron dazu & wie auf Bestellung – sofort ein paar aufgebrachte Stimmen aus der Fundifraktion mal wieder“Verrat” schreien; würde ihnen gerne zart zu bedenken geben, dass es schon noch einen Unterschied macht, ob man sich auf dem Umsonst-Sommerfestival da draußen einmal jährlich nach Herzenslust besäuft, oder ob man so einen Laden Jahr für Jahr in dieser ansonsten einzugsstatistischen Voll-Pampa am Laufen halten muss. Oder neutraler: ob man selber was beiträgt oder nur herummosert, dass andere zu wenig tun.
Und warum gibt´s eigentlich nicht ein paar von Rio immer so vollmundig lobenden Großverdienern, die das alles mal für ein paar Wochen mieten würden, und zwar zu einem möglichst angemessenen Preis, den sie auch woanders zahlen würden, wenn sie mit ihren Bands z.B. ein bisschen in Klausur gehen für ihre jeweiligen neuen Produktionen? Versteh ich nicht, denn der Ort wäre ideal. Ich für meinen Teil kann´s mir leider nicht leisten, was sehr schade ist, denn da herrscht eine Atmosphäre, die man anderswo lange suchen kann. Es sei denn, man möchte Rio nachts lieber nicht begegnen. Was ich dann andererseits bei den meisten meiner lieben deutschsprachigen Kollegen wiederum nur allzu gut verstehen könnte. Würde mir vielleicht auch so gehen, wenn ich sie wäre.

Nun hofft man, dass der Käufer – wer auch immer das sein wird – das Ganze im bisherigen Sinne fortführt. Naja, also ich hoffe mit.

Nachtrag (o3.o8.): neulich lief ich zufällig 2 der alten Scherben über den Weg, & das Ganze endete sehr sympathisch & schön betrunken vor einer dieser Kneipen hier. Allerdings bin ich mir seitdem nicht mehr sicher, ob meine Zeilen zumindest über den Verkauf von Fresenhagen nicht
mit einem sehr großen Fragezeichen versehen werden sollten. Was ich – bis auf weitere Recherchen – hiermit quasi zunächst zu bedenken bitten möchte.

Autoritäten, Bäume, Künstler, Mythen.

Hier eine weitere Exklusiv-Übersetzung (liebe 137 Freunde), diesmal ein Auszug aus Henry Millers Essay „Krishnamurti“ (The books in my life)*. Allein die Konstellation: einer der größten literarischen Freigeister des letzten Jahrhunderts redet über jemanden, den manche vielleicht als „spirituellen Lehrer“ bezeichnen würden (also quasi das Gegenteil, was aber in zentralen Punkten an der Sache vorbeigeht); und wenn ich drüber nachdenke, als was man Jiddu Krishnamurti denn sonst so bezeichnen könnte (neulich schrob ich „indischer Philosoph“, aber auch das trifft´s nicht wirklich), steh ich ebenfalls vor ner Wand: ich glaube, dass er schlicht zur Kategorie derer gehört, die man nicht begrifflich eingrenzen kann, ohne ihnen Gewalt anzutun; bei denen man so verdammt aufpassen muss, was man über sie sagt, dass man in der Regel einen großen Bogen um das Thema macht. Nicht, weil es uninteressant wäre, sondern weil man nichts Falsches sagen möchte. Und das tu ich auch jetzt nicht, sondern überlasse einfach Henry Miller das Feld, soll er sehen, wie er damit klarkommt, das ist ab jetzt seine Sache (ein Ausweichmanöver, sicher, aber immerhin eines, das dieses Thema zumindest auf´s Tapet bringt. Und wo wir schon mal so weit sind, möchte ich ganz schnell noch hinzufügen (ein bisschen großmäulig, ja ja, das trau ich mich gerade noch), dass ein Text wie dieser wahrscheinlich mehr über die Welt sagt, in der wir uns gerade befinden, als ungefähr dreitausendsiebenhundertachtundneunzig Zeitungsartikel über die „Finanzkrise“, den „Kampf der Kulturen“, über diesen momentan unglaublichen Rollback ins Mittelalter sowie die völlige Unsicherheit in Bezug auf fast alles, was Religion, Kultur, Wirtschaft & Politik betrifft (in dieser Reihenfolge)) (& Entschuldigung für all die Klammern), na schön, jetzt reicht´s, los geht´s:

(…) Nach einer langen Diskussion (Krishnamurtis) mit einem Mann in Bombay sagt Letzterer zu Krishnamurti: „Das, wovon Sie sprechen, könnte zur Erschaffung von Supermenschen führen, zu Leuten, die sich selbst ihre eigenen absoluten Meister wären.
Aber was ist mit dem Mann am Fuße der Leiter, der sich auf äußere Autoritäten verlassen muss, der alle Arten von Krücken braucht, der gezwungen ist, sich einem moralischen Code zu unterwerfen, der in Wirklichkeit zugegebenermaßen vielleicht gar nicht für ihn gemacht ist?“

K. antwortet: „ Schauen Sie, was in der Welt passiert. Die Starken, Gewalttätigen und Mächtigen, diejenigen, die Herrschaft über andere an sich reißen und ausüben, befinden sich oben; unten sind die Schwachen und Sanften, die kämpfen und sich abrackern. Nehmen Sie als Kontrast dazu einen Baum, dessen Stärke und Erhabenheit aus seinen tiefen und versteckten Wurzeln emporwächst; im Falle des Baumes ist das obere Ende gekrönt von zarten Blättern, empfindlichen Sprösslingen und den allerfragilsten Zweigen. In der menschlichen Gesellschaft, zumindest wie sie sich heute darstellt, werden die Starken und Mächtigen von den Schwachen gestützt. In der Natur dagegen sind es die Starken und Mächtigen, die die Schwachen stützen (unter den Evolutionsforschern gibt´s Debatten darüber, ob es nicht doch die Fähigkeit zur Empathie sein könnte, die für das Überleben der menschlichen Spezies bisher vor allem verantwortlich war – meine Anm.). Solange Sie weiterhin jedes Problem aus einer pervertierten und verzerrten Sicht wahrnehmen, werden Sie einfach nur immer den jeweils aktuellen Zusand der Dinge akzeptieren. Ich sehe das Problem aus einer anderen Perspektive… weil Ihre Überzeugungen nicht das Resultat ihres eigenen Verstehens sind, käuen Sie einfach nur die Äußerungen von Autoritäten wider, häufen Zitate an, spielen eine Autorität gegen die andere aus, das Alte gegen das Neue. Dazu habe ich nichts zu sagen. Wenn Sie das Leben jedoch von einem Standpunkt aus betrachten, der nicht deformiert oder von Autoritäten verunstaltet ist, nicht ausstaffiert mit dem Wissen anderer, sondern das Ihrem eigenen Leiden entspringt, Ihren eigenen Gedanken, Ihrer Kultur, Ihrem Verständnis, Ihrer Liebe, dann werden Sie verstehen, was ich sage – „car la méditation du coeur est l`entendement“… persönlich – und ich hoffe, Sie verstehen, was ich jetzt sage – habe ich keinerlei Glauben und gehöre keiner Tradition an. Das war immer meine Haltung dem Leben gegenüber. Es ist eine Tatsache, dass das Leben sich von Tag zu Tag ändert, und Glaubensinhalte und Traditionen sind für mich nicht nur nutzlos, sondern, würde ich mich von ihnen an die Kette legen lassen, hinderten mich daran, das Leben zu verstehen… Sie mögen Befreiung erlangen, ganz egal, wo sie sich befinden oder wie die Umstände sind, aber das bedeutete, dass Sie das Durchhaltevermögen eines Genies haben müssten. Weil Genie letztlich in der Fähigkeit besteht, sich von jeglichen Verstrickungen zu lösen, in denen man gefangen ist, die Fähigkeit, aus dem Teufelskreis auszubrechen… Sie mögen mir sagen, dass ich diese Fähigkeit nicht habe. Aber das exakt ist mein Standpunkt. Um Ihre eigene Stärke zu entdecken, die in Ihnen selbst vorhandene Kraft, müssen Sie bereit und willens sein, sich mit jeder Art von Erfahrung auseinander zu setzen. Und gerade das ist es, was Sie ablehnen!“

Diese Art von Sprache ist nackt, befreiend und inspirierend. Sie durchdringt die Wolken von Philosophie, auf die unsere Gedanken gründen und erneuert Quellen, die zur Tat führen. Sie rückt die schwankenden Superstrukturalismen unserer verbalen Gymnasiasten an die richtige Stelle und reinigt den Boden von Unrat. Anstatt eines Hindernisrennens oder einer Rattenfalle macht es das tägliche Leben zu einer erfreulichen Angelegenheit. In einem Gespräch mit seinem Bruder Theo sagte Van Gogh einmal: „Christus war deshalb so unendlich groß, weil niemals irgendwelche Möbel oder andere stupiden Accessoires ihm im Weg standen.“ Man hat dasselbe Gefühl bei Krishnamurti: Nichts steht ihm im Weg. Seine Karriere, einzigartig in der Geschichte spiritueller Führer, erinnert einen an das berühmte Gilgamesch Epos. In seiner Jugend als der kommende Erlöser verklärt, lehnte er die ihm bereitete Rolle ab, verprellte sämtliche Jünger, und lehnte alle Mentoren und Lehrer rigoros ab. Er gründete keinen neuen Glauben oder Dogma, stellte alles in Frage, kultivierte den Zweifel ( besonders in Augenblicken der Verzückung), und – vermöge eines geradezu heroischen Ringens sowie unglaublicher Ausdauer – befreite sich von Illusion und falschem Zauber, von Stolz, Eitelkeit sowie jeder subtilen Form von Herrschaft über andere. Er drang zum Ursprung des Lebens vor, auf der Suche nach Nahrung und Inspiration. Den Fallen und Schlingen derer zu widerstehen, die ihn an ihre Kandare nehmen und ausbeuten wollten, erforderte unendliche Wachsamkeit (…) -

Es gibt etwas an Krishnamurtis Äußerungen, das das Lesen von Büchern äußerst überflüssig zu machen scheint. Auch gibt es eine andere, noch treffendere Tatsache in Verbindung mit seinen Äußerungen (…), nämlich dass „je klarer seine Worte, desto weniger seine Botschaft verstanden“ wird (Suarez).

Krishnamurti sagte mal: „Ich werde ausdrücklich vage sein; ich könnte genausogut sehr deutlich werden, aber das liegt nicht in meiner Absicht. Denn sobald eine Sache definiert ist, ist sie tot“… nein, weder definiert Krishnamurti, noch antwortet er mit Ja oder Nein. Er wirft den Fragenden auf sich selbst zurück, zwingt ihn, die Antwort in sich selbst zu suchen. Immer wieder wiederholt er: “Ich bitte Sie nicht darum, mir zu glauben… ich wünsche mir nichts von Ihnen, weder Ihre geneigte Meinung, Ihr Einverständnis, noch, dass Sie mir folgen. Ich bitte Sie nicht, zu glauben, sondern zu verstehen, was ich sage.“ Kollaboriert mit dem Leben! – das ist es, was er einem immer wieder einschärft. Hier und da ist es veritable Prügel, die er verabreicht – den Selbstgerechten. Was, fragt er, habt ihr erreicht mit all euren geschliffenen Wörtern, euren Slogans und Schubladen, euren Büchern? Wie viele Einzelne habt ihr glücklich gemacht, nicht in einem vorübergehenden, sondern in einem bleibenden Sinne? Und so weiter. (…)

All die schützenden Vorrichtungen – sozial, moralisch oder religiös – die die Illusion erzeugen, als würden sie die Schwachen stützen und ihnen helfen, auf dass sie gelenkt und geleitet würden in Richtung auf ein besseres Leben, sind präzise das, was sie von dem Gewinnbringenden an direkter Lebenserfahrung fernhält. Statt nackter und direkter Erfahrung sehnt sich der Mensch danach, Gebrauch zu machen von Protektionsangeboten, und wird auf diese Weise deformiert. Diese Schutzvorrichtungen werden zu Machtinstrumenten materieller und spiritueller Ausbeutung.

Einer der hervorstechendsten Unterschiede zwischen jemandem wie Krishnamurti und Künstlern generell liegt vor allem in der jeweiligen Haltung ihrer eigenen Rolle gegenüber. Krishnamurti betont, dass es einen permanenten Widerspruch gibt zwischen dem kreativen Genie eines Künstlers und seinem Ego. Der Künstler, sagt er, bildet sich ein, dass es sein Ego ist, welches großartig oder sublim ist. Dieses Ego möchte sich den Moment der Inspiration gewinnbringend zunutze machen für die eigene Glorifizierung, diesen Moment, in dem es in Berührung mit der Ewigkeit war, ein Moment, in dem ganz präzise das Ego eben gerade abwesend war, ersetzt durch den puren Bodensatz der eigenen lebendigen Erfahrung. Es ist die eigene Intuition, fährt er fort, der allein man sich anvertrauen sollte. Sowie in der Tat Dichter, Musiker, und Künstler überhaupt Anonymität kultivieren und sich von ihren Schöpfungen loslösen sollten. Die meisten Künstler jedoch pflegen das genaue Gegenteil, sie möchten ihr Werk vor allem im Zusammenhang mit ihrer Signatur sehen. Verkürzt gesprochen: solange der Künstler vor allem seinem Individualismus nachhängt, wird es ihm nie gelingen, seine Inspiration oder kreative Kraft permanent zu erhalten. Die Qualität oder Bedingung von Genie ist nichts als die erste Phase der Eingebung. (…)

(Gut, was!? – meine Anm.)

(…) Was mich dazu brachte, von Krishnamurti zu reden, ist die Tatsache, dass er, wie solide auch immer er verankert sein mag in der Realität, unwillentlich einen Mythos und eine Legende um sich herum erzeugt hat. Leute wollen einfach nicht wahrhaben, dass jemand, der sich selbst geschaffen hat – einfach, gerade und wahrhaftig – nicht etwas sehr viel Komplexeres und Mysteriöseres dahinter versteckt. Angenommen, ihr dringlichster Wunsch besteht darin, sich aus den grausamen Schwierigkeiten herauszuwinden, in denen sie sich befinden: was sie wirklich bewundern, ist, alles möglichst schwierig zu machen, möglichst obskur und änderungsfähig erst in einer fernen Zukunft. Dass ihre Schwierigkeiten selbstgemacht sind, ist das Letzte, was sie in der Regel zugeben. Auf Wirklichkeit, wenn sie sich denn einen Moment lang mal erlauben einzugestehen, dass sie existiert – im täglichen Leben – wird sich immer nur bezogen als „rauhe“ Wirklichkeit. Man spricht darüber wie von etwas Entgegengesetztem zur göttlichen Wirklichkeit, oder – sagen wir – einem sanften versteckten Paradies („soft hidden paradise“). Die Hoffnung, dass wir eines Tages erwachen werden zu Lebensbedingungen, die völlig anders sind als das, was wir jeden Tag erfahren, macht Menschen zu willigen Opfern jeder Art von Tyrannei und Unterdrückung. Der Mensch wird lächerlich gemacht durch Hoffnung und Angst. Der Mythos, den er von Tag zu Tag lebt, ist der Mythos, dass er eines Tages dem Gefängnis entkommen möge, das er für sich selbst geschaffen hat, und das er den Machenschaften anderer zuschreibt. Jeder wahre Held hat die Wirklichkeit zu seiner eigenen gemacht. Indem er sich selbst befreit, sprengt er den Mythos, der uns an Vergangenheit und Zukunft bindet. Darin besteht gerade die Essenz von Mythos – dass er das wunderhafte („wondrous“) Hier und Jetzt verschleiert. (…)

Ein paar Jahre später soll Krishnamurti folgendes gesagt haben: „Verlangt nicht nach Glücklichsein. Sucht nicht nach Wahrheit. Sucht nicht das Ultimative.“ Außer für Sophisten und Verfälscher gibt´s hier nichts Abweichendes von der ewigen Streitfrage, die er folgendermaßen auf den Punkt bringt: „Sie suchen nach Wahrheit, als wär´s das Gegenteil von dem, was Sie sind.“
Wenn solche klaren, gradlinigen Worte nicht anstacheln oder aufwecken, was dann?
(…)

(* Copyright 1969 by New Directions Publishing Corporations.)

Na schön, also hier hör ich einfach mal auf.